5. Kapitel: Von Orgien und Untergängen
Am nächsten Morgen wurde Bendix äußerst unsanft aus dem Schlaf geholt. Zuerst drang ein lautes Pochen wie von Metall auf Holzbohlen in sein umnebeltes Hirn, dass er aber erfolgreich verdrängte. Wenig später meinte er, im Traum zersplitterndes Holz wahrzunehmen, doch schaffte er es nochmal, ungestört weiterzuschlafen. Dann allerdings war es mit der Ruhe vorbei: Eine kalte, spitze Klinge bohrte sich unangenehm tief in seinen Hals. Bendix riss mühsam die dick verklebten Augen auf, versuchte aber, sich nicht zu bewegen.
Das wäre auch nicht sonderlich empfehlenswert gewesen, zumal er ein ausgewachsenes Breitschwert an der Kehle hatte. Über der Klinge dieses Breitschwertes sah er die stahlblauen Augen von Hauptmann Hermanis, der ihn böse angrinste. "Bendix, hiermit verhafte ich dich wegen Betruges in Höhe von 90 Gulden. Mitkommen!" Bendix stand schwankend auf, sah sich in dem kleinen Zimmer hinter seinem Kontor um und versuchte vergeblich zu verstehen, was hier vorging. "90 Gulden? Ich habe niemanden betrogen!"
Hermanis Lächeln erstarrte zu einer Grimasse. "Schnauze! Mitkommen!" Offenbar war der Hauptmann noch immer verstimmt, weil Bendix und Baldowan kürzlich einen größeren Aufruhr im Stadtgefängnis angezettelt hatten, um ihren Freund Rainald zu befreien, der dort unschuldig in einer Zelle eingesessen hatte. Bendix beschloß, vorläufig lieber zu schweigen und seine Gedanken zu ordnen.
Unterdessen winkte Hermanis zwei seiner Gardisten nach vorn und befahl ihnen: "Durchsucht diesen Sündenpfuhl, aber gründlich!" Die beiden jungen Gardisten, die bei dem Aufruhr im Gefängnis eine wenig ruhmreiche Rolle gespielt hatten, sprangen eilig vor und begannen, Bendix` Kontor zu durchwühlen. Bendix, dem der Kopf noch immer schwirrte - vermutlich von der großen Party, die er gestern spontan in einer der örtlichen Kneipen initiiert hatte - blickte sich in dem Raum um, als wenn er ihn noch nie gesehen hätte.
Sein Bett, das normalerweise gepflegt und ordentlich aussah, glich einem Schlachtfeld. Sämtliche Decken waren zerwühlt und zerknüllt, am Fußende lagen reichlich leere Flaschen, daneben stand eine große Wasserpfeife, die ein intensives Aroma nach Orangen und Tabak, vermischt mit einer kleinen Spur Rauschharz, ausströmte. Die Krönung dieses Bildes war aber das nackte, schlanke Bein einer jungen Frau, das unter einer der Decken hervorlugte und keck in den Raum ragte.
Der satte, bräunliche Hautton kontrastierte herrlich mit dem blassen Blau der Decke, wie Bendix trotz seiner mißlichen Lage nicht umhin konnte festzustellen. Eine Frage allerdings gab ihm zu denken: Wer war die junge Frau in seinem Bett und wo kam sie her? Er konnte sich beim besten Willen nicht an die Geschehnisse der letzten Nacht erinnern. Alles, was nach dem späten Abend geschehen war, lag unter einer gnädigen Decke des Vergessens.
Unterdessen weckten Olaf und Gerd, die beiden Stadtwächter, die junge Frau, die verstört aus dem Tiefschlaf aufschreckte und schockiert aufschrie. Die beiden Gardisten packten sie unsanft und rissen an ihren Armen, bis sie aufrecht neben dem Bett stand. Nun wurde es Bendix denn doch zu viel, schließlich war die junge Frau, die jetzt nackt und benommen zwischen den Gardisten hin- und her taumelte, im weitesten Sinne sein Gast.
Er riß sich los, selbst noch unbekleidet, und streckte Olaf mit einem satten Schwinger seiner rechten Faust zu Boden. Anschließend packte er Gerd im Nacken, zog seinen Kopf nach unten und riß dann das Knie nach oben, so dass es in das Gesicht des jungen Gardisten schmetterte. Das Knirschen des brechenden Nasenbeins war das letzte, was er hörte, bevor Hermanis ihm den Knauf seines Breitschwertes an die Schläfe schlug. Dann wurde es Nacht.
Langsam lichtete sich das Dunkel vor Bendix' Augen. Er probierte vorsichtig, den Kopf zu heben, stellte aber schnell fest, das er Bewegungen besser unterließ. Die Nachwirkungen seiner Orgie in Kombination mit Hermanis´ Schlag hatten zu noch übleren Kopfschmerzen geführt. Er beschloß, vorläufig bewegungslos liegen zu bleiben und zunächst nur vorsichtig die Umgebung zu sondieren.
Er lag auf kaltem, feuchtem Steinboden in einem halbdunklen Raum, in dem er einige Gestalten ausmachen konnte, die mit angezogenen Beinen an einer grauen, feuchten Streinwand saßen. Bendix richtete sich erneut auf, ganz, ganz langsam diesmal und nahm den Raum genauer in Augenschein. Seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich: Er saß im Gefängnis, offenbar in einer überfüllten Mehrpersonenzelle. Für die insgesamt sechs Inhaftierten, ihn selbst mitgezählt, gab es genau zwei Holzpritschen mit dünnen, fadenscheinigen Decken. An einer Wand plätscherte ein kleines Rinnsal leidlich reinen Wassers aus einem rostigen Bleirohr in ein steinernes Becken, in einer Ecke war ein dunkles, stinkendes Loch vorhanden, über dessen Zweck er besser nicht nachdachte.
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