Üble Geschichten über Schlägereien und Mißhandlungen im nevongardischen Gefängnis kamen ihm in den Sinn, doch vielleicht hatte er ja auch Glück im Unglück gehabt. Einer seiner Leidensgenossen trat zu ihm und stieß ihn mit der Stiefelspitze an. "Er is wach! Bist neu hier, nich?" Bendix nickte matt und versuchte aufzustehen. "Nein, nein, bleib unten. Is am Besten, wenn Hermanis dich nieder gestreckt hat! Hat er doch, oder?"
Bendix nickte nochmals mühsam und versuchte, ein dünnes, aber stetiges Rinnsaal Blut aus einer Stelle oberhalb des rechten Auges zu ignorieren. Jetzt konnte er wieder etwas besser sehen und versuchte, die übrigen Männer in der Zelle zu erkennen. Blitzschnell fuhren ihm wieder einige Geschichten über die brutalen Angewohnheiten der Häftlinge durch den Kopf. Seine Kleidung, obwohl etwas schmutzig von den Strapazen der letzten 24 Stunden, war weitaus wertvoller als alles, was die übrigen Personen hier am Leib hatten.
Plötzlich schob sich eine riesenhafte, dunkle Gestalt nach vorn, grunzte einem der Umstehenden etwas zu und näherte sich Bendix dann mit torkelnden Schritten. Die Kehle des jungen Kaufmanns wurde trocken, als er versuchte, rückwärts davon zu robben. Der riesenhafte Kerl krempelte die schmuddeligen Ärmel hoch und ließ die Knöchel bedrohlich knacken. Bendix spürte, wie die Furcht ihm die Kehle zuschnürte. Das letzte, was er hörte, bevor ihn das Bewußtsein verließ, war das irrsinnige Kichern des wankenden Giganten...
Zur gleichen Zeit betrat Rainald mit ebenfalls brummendem Schädel und belegter Zunge das Kontor des jungen Bendix. Der Straßenkämpfer stapfte frohen Mutes auf den Hof, noch immer guter Laune nach ihrem erfolgreichen Coup am Vortag. Nach einigen Minuten des vergeblichen Suchens betrat Rainald mit lautem Klopfen die privaten Räume des jungen Kaufmannes.
Seinem geübten Auge offenbarten sich schnell die Spuren einer ausgiebigen Orgie, doch Bendix und seine Gespielin, oder Gespielinnen, waren und blieben verschwunden. Rainald zuckte die Schultern und wandte sich zum Gehen. Wer wusste schon, was und mit wem Bendix gerade trieb? Es gab viele Möglichkeiten, sich in Nevongard zu vergnügen...
Bendix` Bewußtsein driftete zwischen Helligkeit und Dunkel hin- und her. Unter sich spürte er noch immer harten, rauhen Untergrund, in einiger Entfernung konnte er Stimmen vernehmen, die sich in vulgärem gomdisch unterhielten. Als er mühsam ein verklebtes Augenlid öffnete, erblickte er erneut den kichernden Giganten, der vor ihm stand, ein blutiges Tuch in der Hand, ein irres Grinsen im Gesicht. Nun näherte sich die andere Hand des Wahnsinnigen und drückte Bendix Kopf nach unten. Es wurde wieder Nacht.
Rainald stand gemeinsam mit Baldowan am Fluß und genoß das bunte Treiben, das auf dem majestätisch dahingleitenden Gomd zu sehen war. Zahlreiche Fernhändler, Flußschiffer und Ruderer nutzten den alljährlich zelebrierten Hafentag, um sich und ihre farbenfroh geschmückten Gefährte einer staunenden, feiernden Menge darzubieten. Baldowan, der sich nur nach längerem Drängen seines Freundes dazu bereit erklärt hatte, das bunte Treiben zu besuchen, interessierte sich besonders für den Stand einer feinen Speisewirtschaft, während Rainald interessiert die Auslage eines Waffenhändlers betrachtete, der die große Menschenmenge für seine Zwecke zu nutzen wusste.
"Schade, dass Bendix nicht hier ist, Baldowan! Vielleicht hätte er dieses Stilett für mich ein wenig herunterhandeln können." Rainald wies auf die kleine, gut gearbeitete Waffe, die inmitten der Auslage die Blicke auf sich zog. Der geschäftstüchtige Händler, ein dunkelhaariger, lockiger Bursche mit soldalischem Akzent, beeilte sich, seine Ware anzupreisen. "Eine sehr gute Wahl, sehr gut, wirklich, mein Herr. Bester Blaustahl, leicht, dabei fest und garantiert rostfrei! Und seht, ein passendes Unterarmhalfter gibt es - nur heute - gratis von mir dazu!"
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